Gottfried Benn: Leben − niederer Wahn
Leben − niederer Wahn!
Traum für Knaben und Knechte,
doch du von altem Geschlechte,
Rasse am Ende der Bahn,
was erwartest du hier?
immer noch Berauschung,
eine Stundenvertauschung
von Welt und dir?
Suchst du noch Frau und Mann?
ward dir nicht alles bereitet,
Glauben und wie es entgleitet
und die Zerstörung dann?
Form nur ist Glaube und Tat,
die erst von Händen berührten,
doch dann den Händen entführten
Statuen bergen die Saat.
Das am 24. Juli 1936 auf der Rückseite einer Ansichtspostkarte an den Freund F. W. Oelze geschickte Gedicht fasst Gottfried Benns Weltkonzept zusammen; wesentlich beeinflusst von Nietzsches Gedanken, dass Realität nur als ästhetisches Ereignis relevant ist. Für Benn ist Wirklichkeit eine Chimäre, Leben niederer Wahn und der Glaube, des Menschen Tätigkeit könne den Lauf der Dinge beeinflussen, ein Traum für Knaben und Knechte. Entwicklung, gar Fortschritt der Geschichte hat Gottfried Benn in zahlreichen Gedichten wie Prosaarbeiten vehement als fundamentalen Irrtum abgewehrt. Nur der Einzelne, das Genie, hat Gültigkeit, Einsamkeit ist die probate Lebensform und allein der Künstler vermag es, dem sinnlosen Leben etwas abzuringen, das Bestand hat: Form nur ist Glaube und Tat.
Benns Elitebewusstsein ist zutiefst antidemokratisch; damit Ausdruck einer generellen Zivilisationsskepsis, die in der Weimarer Republik dem linken wie dem rechten Lager der Intellektuellen gemeinsam war: links Bertolt Brecht oder Johannes R. Becher oder Kurt Hiller rechts Ernst Jünger oder Gottfried Benn. In der politischen Konsequenz führt das die einen zum Kommunismus, die anderen zum Faschismus; dessen vor allem italienische Variante von Irratio, Heldentum und Auserwähltsein faszinierte Gottfried Benn so sehr, dass er 1932 bis 1934 sich den Nationalsozialisten annäherte. In der künstlerischen Konsequenz führte es die einen zum Lehrstück oder Belehrungsgedicht, jedenfalls zum Versuch, mit den Mitteln der Kunst Bewusstsein zu verändern. Eben diese Stundenvertauschung von Welt und dir leugnet Benn, der in einem anderen Gedicht kündet: Entwicklungsfremdheit / ist die Tiefe der Weisen.
Gottfried Benn, poetischer wie ideologischer Antipode seines Zeitgenossen Brecht des weltlichen Predigers, kennt nicht die Form des Rufgedichts; er will niemanden erreichen, nichts verändern. So höhnt er ein lebelang jegliche Teilhabe und erklärt jeglichen Lebensgenuss, ob der Dirne oder der Diva, des Millionärs beim Champagner oder des Müllfahrers beim Bier zum Gaukelspiel von Schwächlingen; denn es gibt nur zwei Dinge: die Leere / und das gezeichnete Ich
- Aus: DIE ZEIT, 2000/42